Transformation

Jagd im Wandel der Zeit – Verantwortung in einer digitalisierten Welt

Lesezeit: ca. 15 Minuten

Am 17. Mai hatte ich die Ehre, im Weißen Saal des Neuen Schlosses in Stuttgart an der Podiumsdiskussion „Zeitlose Jagd – gestern, heute, morgen“ teilzunehmen. Der Anlass war ein besonderer: 150 Jahre organisierte Jagd in Baden-Württemberg. Ein eindrucksvoller Meilenstein – und er spiegelt einen Teil dessen wider, was Jagd in Wirklichkeit ist: ein kultureller Auftrag, eine ethische Haltung und eine tiefe Verbindung zur Natur.

Doch genau diese Leidenschaft steht heute vor fundamentalen Herausforderungen. Die Welt um uns herum verändert sich mit rasender Geschwindigkeit. Technologien, allen voran Künstliche Intelligenz (KI), dringen immer tiefer in alle Lebensbereiche ein, die früher ausschließlich menschlichem Ermessen vorbehalten waren – auch in die Jagd. Der technologische Fortschritt ist faszinierend, zweifellos. Aber er stellt uns auch vor die Frage: Was bleibt, wenn alles sich verändert?

Ethik in Zeiten der Automatisierung

Die Jagd war nie nur eine Methode zur Wildreduktion. Sie war und ist ein ethisches System – ein feinsinniges Geflecht aus Wahrnehmung, Wissen und Verantwortung. Wenn wir heute Drohnen einsetzen, um Rehkitze vor dem Mähtod zu retten, handeln wir aus genau diesem Geist: Achtsamkeit. Doch dieselbe Technik, die Leben rettet, kann – falsch eingesetzt – auch entmündigen. Wenn Algorithmen Abschussempfehlungen geben, wenn KI entscheidet, wann und wo ein Tier „entnommen“ wird, dann verlieren wir das, was Jagd ausmacht: das Spüren, Abwägen, Verstehen.

Die klassische Jagdausrüstung wird zunehmend durch digitale Systeme ergänzt – Präzision, Datenanalyse und Echtzeitkommunikation halten Einzug. (Foto: freepik)

Ein besonders ausdrucksstarkes Beispiel ist die Kitzrettung, die in der Öffentlichkeit immer wieder mit Kritik begegnet wird. „Wir retten Kitze – nur um sie später zu schießen?“ Diese Frage begegnet uns immer wieder. Doch sie beruht auf einem Missverständnis. Wer rettet, übernimmt Verantwortung. Nicht situativ, sondern ganzheitlich. Kitzrettung ist kein PR-Gag. Sie ist Ausdruck einer tiefen ethischen Haltung: dem Respekt vor dem Leben.

Denn Jagd ist Beziehung – zum Wild, zur Natur, zur Gesellschaft. Diese Beziehung verpflichtet. Sie bedeutet, dass jede Handlung getragen sein muss von Wissen, Erfahrung und Gewissen. Ein Tier zu retten und es später dennoch zu bejagen, ist kein Widerspruch. Es ist Ausdruck einer Ethik, die das Leben nicht romantisiert, sondern ernst nimmt. Jagd ist keine Idylle – sie ist Entscheidung.

Zwischen Technik und Haltung

Drohnen können wertvolle Daten zur Wildbeobachtung und Revierpflege liefern und leisten wertvolle Dienste bei der Rehkitzrettung. (Foto: freepik)

Technik ist nicht per se gefährlich. Wärmebildkameras, Wildzähl-Apps, digitale Revierkarten – sie alle können helfen, Jagd tierschutzgerechter und präziser zu gestalten. Doch entscheidend ist, wie wir sie nutzen. Technik darf niemals zum Selbstzweck werden. Sie muss sich in den Dienst der jagdlichen Haltung stellen, nicht umgekehrt.

Heute nutzen wir bereits Wildkameras, GPS-Ortung und Drohnen zur Revierüberwachung. Wärmebildtechnik hilft uns, Tiere auch bei Dunkelheit zu erkennen, was die Sicherheit für Mensch und Wild erhöht. Apps bieten neue Möglichkeiten zur Revierorganisation. Und KI wird in der Mustererkennung bei der Wildzählung getestet. All das sind beeindruckende Fortschritte.

Doch genau hier liegt auch die Gefahr: Wenn Technik die Sinneswahrnehmung, die Intuition und das Erfahrungswissen ersetzt, wenn der Mensch das Spurenlesen verlernt, verlieren wir den Kern jagdlicher Praxis. Jagd ist nicht die effiziente und ferngesteuerte Dienstleistung. Sie ist eine Schule der Wahrnehmung.

Noch gravierender: Wer Entscheidungen auslagert – an Algorithmen, an Systeme – der gibt Verantwortung ab. Das kann zu einer tiefen Entfremdung und Entkoppelung führen. Von der Mitwelt. Vom Wild. Der Natur. Und letztlich auch von uns selbst.

Unsere persönliche Reifung – ein unterschätzter Aspekt der Jagd

Ein Aspekt, der in der Diskussion oft zu kurz kommt, ist die persönliche Reifung, die durch die jagdliche Praxis möglich wird. Die Auseinandersetzung mit Leben und Tod, mit Verantwortung und Gewissen, hinterlässt Spuren in der Persönlichkeit. Es ist diese tiefgründige, oft stille Transformation, die Jägerinnen und Jäger prägt. Sie reift nicht durch Theorie, sondern durch unmittelbares Erleben, durch Erfahrung, durch das Ringen um die richtige Entscheidung.

Diese persönliche Reifung kann jedoch nur dort stattfinden, wo der Mensch als handelndes, fühlendes Wesen in den Prozess eingebunden ist. Wenn technische Systeme dem Jäger Entscheidungen abnehmen, wenn Sensorik und Algorithmen das Erkennen und Beurteilen ersetzen, dann droht genau diese Entwicklung zu verkümmern. Die Folge wäre ein entmündigter Jäger – ein Akteur ohne echte Verantwortung, ein Technik-Anwender ohne Entscheidungskompetenz.

Umso wichtiger ist es, dass wir die Jägerschaft als Verantwortungsgemeinschaft stärken. Jagd bedeutet nicht nur, ein Revier zu führen oder Wild zu erlegen. Jagd bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – für ein ökologisches Gleichgewicht, für ethische Maßstäbe, für das eigene Handeln und für die Vermittlung dieser Werte an die nächste Generation. Diese Haltung zu bewahren und weiterzugeben ist eine der dringendsten Aufgaben unserer Zeit.

Superintelligenz und Jagd: Was uns bevorsteht

Die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz verläuft nicht linear – sie ist exponentiell. Systeme wie GPT-4 demonstrieren bereits jetzt eine enorme Bandbreite an Fähigkeiten: Sprachverarbeitung, Problemlösung, Mustererkennung. Doch was passiert, wenn diese Systeme bald die gesamte menschliche Intelligenz übertreffen?

Segen oder Horrorszenario? SAI wird dem Menschen in allen kognitiven Bereichen überlegen sein. (Foto: freepik)

Superintelligenz (SAI – Super Artificial Intelligence) bezeichnet eine hypothetische Form von KI, die in allen kognitiven Bereichen überlegen ist: emotional, kreativ, strategisch. Führende Forscher wie Nick Bostrom oder Eliezer Yudkowsky halten es für möglich, dass wir in wenigen Jahren an diesem Punkt stehen. Eine Zukunft, in der die Jägerschaft nicht mehr selbst entscheidet, sondern von einem System beraten – oder gar gesteuert – wird, ist keine Science-Fiction mehr.

Stellen wir uns das Jahr 2035 vor: Eine Jägerin tritt ins Revier. Ihr digitales Jagdglas zeigt in Echtzeit Wildbewegungen, Verhalten, Brunftperioden, Biotopdaten. Es gibt Empfehlungen ab: „Rehbock, Klasse II, ca. 4 Jahre, Abschuss möglich.“ Die Jägerin zögert. Die Software erkennt das und bietet Alternativen: „350 m südlich: Überläufer in Äsung.“ Was bedeutet das für unsere Eigenverantwortung? Für unsere Beziehung zum Wild?

Technik weiß, wo das Wild steht. Aber nur wir wissen, wann es richtig ist zu handeln.

Ausbildung als Schlüssel für Zukunftsfähigkeit

In einer Zeit, in der Maschinen Muster schneller erkennen als wir, gewinnt unsere Haltung an Bedeutung. Jagdliche Ausbildung muss heute mehr sein als das Erlernen von Technik. Sie muss Haltung vermitteln. Ethik. Achtsamkeit. Naturverständnis.

Junge Menschen wollen wissen, warum sie jagen. Sie suchen keine reine Schießausbildung, sondern ein tieferes Naturverständnis. Studien zeigen: Hauptmotivation für den Jagdschein ist das intensive Naturerlebnis. Ausbildung muss dem gerecht werden. Sie muss Technik erklären – aber nie ohne Ethik. Sie muss Digitalisierung nutzen – aber nie auf Kosten der Beziehung zur Mitwelt.

Hier kommt auch der intergenerationale Austausch ins Spiel. Junge Jäger:innen bringen digitale Kompetenz, Innovationskraft und neue Perspektiven mit. Ältere Jäger:innen tragen Erfahrungswissen, Handwerk und Ethos. Wir brauchen beides. Und wir müssen Strukturen für Mentoring und Wissenstransfer schaffen, in denen beides auf Augenhöhe miteinander wirken kann. 

Die Rückverbindung zur Natur beginnt mit dem richtigen Verständnis

Unser Auftrag ist klar: wir müssen weiterhin Räume schaffen und bewahren, in denen der Mensch seiner natürlichen Rolle als Teil des Ökosystems begegnen kann. In einer Welt, die sich zunehmend von natürlichen Prozessen entkoppelt, wächst das Bedürfnis nach Rückverbindung – nicht nur zum Wild, sondern zum größeren Zusammenhang des Lebens.

Der Mensch ist nicht Gegenspieler, sondern Teil unserer natürlichen Systeme. (Foto: freepik)

Doch genau hier zeigt sich eine zentrale Herausforderung: das fehlende einheitliche Verständnis von „Natur“. In vielen gesellschaftlichen Debatten wird Natur als etwas betrachtet, das dem Menschen gegenübersteht – als unberührter Idealzustand, der um jeden Preis vor menschlichem Einfluss geschützt werden müsse. Innerhalb dieses Weltbildes erscheint jede Form menschlicher Interaktion, insbesondere die Jagd, zwangsläufig als Störung.

Wird der Mensch jedoch nicht als Gegenspieler, sondern als Teil der natürlichen Systeme verstanden – eingebettet, verantwortlich, verbunden – verändert sich auch der Blick auf die Jagd. Sie wird dann nicht als Eingriff wahrgenommen, sondern als eine Möglichkeit bewusster Mitgestaltung im Sinne von Balance, Pflege und Achtsamkeit. Genau in dieser Sichtweise liegt die Chance für mehr gesellschaftliche Akzeptanz: nicht durch Rückzug, sondern durch ein neues, integratives Naturverständnis, das den Menschen in die Pflicht nimmt, statt ihn auszuschließen.

Rückblick: Was war – und was bleibt

Die Geschichte der Jagd ist eine Geschichte der Transformation. Vom Überlebensinstinkt zur Kultivierung, von der Subsistenz zur Hege. Die Jagd hat sich stets verändert – und doch ist ihr ein innerster Kern geblieben: die Verantwortung gegenüber dem Leben.

Schon in der Antike galten Jagd und Philosophie als nahe Verwandte: Das Beobachten, das Warten, das Erkennen. Im Mittelalter war die Jagd ein Privileg – heute ist sie ein öffentliches Gut mit hohem Anspruch an Nachhaltigkeit und Legitimation. Und morgen?

Wir tun gut daran, diesen historischen Weg zu reflektieren. Denn nur wer weiß, woher er kommt, kann mit Klarheit entscheiden, wohin er gehen will.

Gesellschaftliche Verantwortung und Dialog

Digitale Hilfsmittel sind heute selbstverständlich im jagdlichen Einsatz. Der nächste Schritt: KI-gestützte Systeme, die Analyse und Planung auf ein neues Niveau heben. (Foto: freepik)

Jagd steht heute im Fokus der Gesellschaft. Sie polarisiert und emotionalisiert. Dabei befindet sie sich längst nicht mehr am Rande der ökologischen Diskussion, sondern ist integraler Bestandteil davon. Zwischen romantisierten Naturbildern und pauschaler Ablehnung liegt jedoch ein weiter Raum, der differenziert betrachtet werden muss.

Hier beginnt unsere Verantwortung. Wir müssen kommunizieren – ehrlich, authentisch und transparent. Nicht mit Abwehr und Misstrauen, sondern mit Erklärungsbereitschaft und einem offenen Geist. 

Gerade in einer Zeit, in der urbane und technologisierte Lebenswelten zunehmend dominieren, ist es unsere Aufgabe, Wildtiere, Lebensräume und die Rolle des Menschen darin neu zu erklären. Jagd ist kein Selbstzweck. Sie dient – der Biodiversität, der Lebensraumgestaltung, dem Ausgleich zwischen Wild und menschlicher Nutzung.

Internationale Perspektiven

Ein Blick über die Grenzen lohnt sich. In Skandinavien etwa ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Jagd hoch – weil Kommunikation, Transparenz und Mitverantwortung selbstverständlich sind. In Österreich rückt die Ausbildung zunehmend ethische und ökologische Aspekte in den Vordergrund. In Nordamerika wiederum wird „conservation hunting“ mit hoher Verantwortung verbunden.

Diese Beispiele zeigen: Jagd ist wandelbar – und lernfähig. Wir müssen sie nicht neu erfinden, aber wir müssen sie neu verankern – in der Gesellschaft, im Denken, im Herzen.

Ein Weckruf an uns alle

Wir dürfen nicht zulassen, dass Jagd zur Simulation wird – zu einer ferngesteuerten Dienstleistung im Algorithmus. Jagd ist lebendig. Sie ist Beziehung. Sie ist Verantwortung. Und sie ist Entscheidung. Sie braucht uns – mit Haltung, mit Gewissen und mit innerer Reife.

Jagd braucht mehr als Technik – sie braucht Gespür für das Leben. (Foto: freepik)

Lasst uns gemeinsam darüber sprechen, wo unsere Grenzen liegen. Wo Technik unterstützt – und wo sie entkoppelt. Lasst uns die Ausbildung weiterentwickeln, die Sprache der Jagd neu denken, und Ethik und Dialogfähigkeit zur Schlüsselkompetenz machen. Lasst uns mutig sein, auch Kritik anzunehmen – nicht, um uns zu rechtfertigen, sondern um zu erklären und ins Gespräch zu kommen.

Denn: Die Technik weiß, wo das Wild steht – aber nur wir wissen, wann es richtig ist zu handeln.

Die Jagd der Zukunft wird dort Bestand haben, wo sie Beziehung schafft – zu Wild, zur Landschaft und zu den Menschen. Nicht durch Rückzug, sondern durch Mitgestaltung. Nicht durch Abgrenzung, sondern durch Verbundenheit.

Und vielleicht lautet die wichtigste Frage der Zukunft nicht, was wir tun dürfen – sondern: Welche Menschen wollen wir in dieser Welt sein? Die Jagd kann helfen, Antworten darauf zu finden – nicht mit einfachen Lösungen, aber mit einem tiefen Verständnis für das Leben in all seiner Komplexität.

Links:
https://www.landesjagdverband.de

Beitragsfoto: Oleksandr Sushko Unsplash Photo

https://www.landesjagdverband.de

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