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Familienrotten: Kleinräumige saisonale Streifgebiete und hohe Standorttreue

Lesezeit: 5 Minuten

Titel der Studie: Untersuchungen zu Raum- und Habitatnutzung des Schwarzwildes (Sus scrofa L.) in Südwest-Mecklenburg unter besonderer Berücksichtigung des Bejagungseinflusses und der Rolle älterer Stücke in den Rotten (2009)

Autoren: Arbeitsgruppe Wildtierforschung der Professur für Forstzoologie im Auftrag der Obersten Jagdbehörde Mecklenburg-Vorpommern

Fakten und Erkenntnisse

  • Schwarzwild-Rotten reagieren in Raum- und Habitatnutzung, Aktivitäten und Sozialverhalten flexibel und individuell auf viele Einflussfaktoren.
  • Der Großteil des Schwarzwildes ist standorttreu und verbleibt in seinem angestammten Mutterstreifgebiet.
  • Überläufer und ältere Keiler bewegen sich großräumiger als Bachen.
  • Überläufertrupps können große Strecken zurücklegen. In der Literatur wird von bis zu 250km berichtet.
  • Im Winter und Frühjahr bewegt sich das weibliche Schwarzwild besonders kleinräumig und standorttreu.
  • Die Sommerstreifgebiete sind am größten, was mit dem Nahrungsangebot in den Feldern zusammenhängt.
  • Streifgebietsveränderungen müssen vor allem saisonalen Einflüssen zugeschrieben werden, wie Witterung, Nahrungsangebot, veränderte Bedürfnisse etc.
  • Die Bejagungsmethode hat keinen erkennbaren Einfluss auf die saisonalen Streifgebietsgrößen. 
  • Bei Schwarzwildrotten können temporäre und finale Trennungen beobachtet werden.
  • Überläuferrrotten trennen sich weniger häufig als Familienverbände.
  • „Freundschaften“ und Verwandtschaftsgrade beeinflussen die Trennungen.
  • Temporäre und finale Trennungen scheinen regelmäßige Verhaltensmuster zur Vermeidung intrafamilärer Konkurrenz zu sein.
  • Das Aggressionsverhalten spielt eine entscheidende Rolle in der Rottenhierarchie.
  • Hauptaktivität ist die Nahrungssuche und -aufnahme. Sie nimmt mit über 90 % den größten Zeitanteil in Anspruch.
  • Im Winter sind die Sauen durchschnittlich 9:45 Stunden während einer Nacht aktiv.
  • Im Winter ist die Tagaktivität deutlich geringer als im Sommer.
  • Der Einfluss der Bejagung auf das räumliche Verhalten ist eher gering und wird von anderen saisonalen Faktoren überlagert.
  • Schwarzwild kehrt schon nach kurzer Zeit an bejagte Kirrungen zurück.
  • Drückjagden scheinen keinen nennenswerten Einfluss auf die Streifgebiete zu haben.
  • Revierübergreifend angewendete kombinierte Bejagungsmethoden scheinen notwendig um die Schwarzwildbestände konsequent zu regulieren.
  • Einziges Mittel zur Minimierung von Epidemien beim Schwarzwild ist die Reduktion der Bestände.
  • Schwarzwild ist sehr lernfähig, deshalb braucht es eine permanente Überprüfung und Anpassung der Bejagungsstrategien.

Ausgangslage

Das Schwarzwild ist in seiner heutigen hohen Populationsdichte zu einem ökonomischen und ökologischen Faktor geworden. Es kann als Reservoir für Krankheiten dienen, die die Haustierbestände bedrohen und/oder immense Schäden an Agrarfrüchten, Waldverjüngungen und anderen Ökosystemen verursachen. Der Zuwachs der Population wird von der Jägerschaft nicht abgeschöpft. Als Konsequenz wird von Landwirten und Veterinären eine Reduktion der Bestände gefordert – auch durch Verabreichung von Pharmaka wie Abortiva oder Massentötungen. Neben den offensichtlichen Konflikten mit Tier- und Verbraucherschutz, sind die Erfolge solcher Strategien nicht ausreichend untersucht. Da innerhalb der Wildschweinrotten eine hierarchische Ordnung herrscht, besteht die Gefahr, dass solche Mittel nur von einzelnen Tieren aufgenommen und dadurch die Rauschzeit desynchronisiert werden könnte. Es bestehen zudem berechtigte Bedenken, wie sich solche Hormonpräparate auf andere Tierarten auswirken. Die Einbringung von Pharmaka in die Natur sind Methoden, deren Folgen und Kosten niemand absehen kann.

Bei geringer Störung bewegt sich das Schwarzwild kleinräumig.

Alle Arten der Gattung Sus sind soziale Tiere und leben in maternalen Familienverbänden. Die männlichen Tiere (Keiler) sind Einzelgänger. Ein Familienverband besteht aus einer adulten Bache sowie ihren Frischlingen. Weibliche und männliche Frischlinge verbleiben in der Mutterfamilie bis zur nächsten Frischzeit. Ein Großteil des weiblichen Nachwuchses des vergangenen Jahres (Überläuferbachen) wird ebenfalls in der Rotte geduldet. Sie bilden zusammen mit ihrer Mutter und den weiblichen Geschwistern eine soziale Einheit. Männliche Überläufer verlassen mit dem erneuten Frischen der Mutter im Frühjahr den Rottenverband und ziehen alleine oder in kleinen Überläufertrupps umher. Unter Umständen legen sie dabei große Strecken zurück. Es wird in der Literatur von bis zu 250km berichtet. Es besteht die Vermutung, dass menschliche Störungen und vor allem Jagddruck zu Nachtaktivität und weiträumiger Bewegung des Schwarzwildes führen. Dies reflektiert auch die allgemeine Meinung, wonach Wildschweine ursprünglich tag-und dämmerungsaktive Tiere waren, die sich bei tagsüber und kleinräumig bewegen, wenn sie ungestört sind. Es wird gemutmaßt, dass sich durch einen geringeren dauerhaften Jagddruck – wie es bei wenigen Drückjagden im Jahr ohne zusätzliche Einzeljagd der Fall ist – eine vermehrte Tagaktivität und kleinräumiges Verhalten einstellen. Der Nachteil der Drückjagden ist, dass sie für einen kurzen Zeitraum Ausweichbewegungen und Abwanderungen verursachen können. Diese temporäre Großräumigkeit könnte eine Ausbreitung von Seuchen (z.Bsp. der ASP) begünstigen

Anpassungen der lokalen Drückjagdmethoden sind empfehlenswert.

Bisher gilt die Ansitzjagd als effektivste Jagdart. Drückjagden verursachen durch eine zeitlich begrenzte Störung allerdings weniger Beunruhigung. Drückjagden haben zwar ihren Anteil an der Schwarzwild-Jahresstrecke, er könnte allerdings deutlich gesteigert werden, wenn vermehrt eine lokale Anpassung der Drückjagdstrategien stattfinden würde. Um unsere Jagdmethoden zu optimieren, brauchen wir mehr Erkenntnisse über Sozialverhalten, Raum- und Habitatnutzung, Populationsstruktur, Reproduktion, Ausbreitungsmechanismen sowie Interaktion zwischen den Rotten. Nur dann können die Schwarzwildbestände nachhaltig eingedämmt und in der Folge Wildschäden minimiert und eine effizientere Seuchenbekämpfung ermöglicht werden.

Projektübersicht

Im Zeitraum von November 2002 bis November 2006 wurden innerhalb des Forstamtes Schildfeld (Südwest-Mecklenburg, Landkreis Ludwigslust) mittels Radiotelemetrie, Video- und Direktbeobachtungen sowie Streckenauswertungen und Rückmeldedaten, Erkenntnisse zu Sozialverhalten sowie Raum- und Habitatnutzung des Schwarzwildes gewonnen. Bei den Auswertungen wurden auch die Bejagungseinflüsse berücksichtigt. 152 Wildsschweine wurden gefangen und markiert, von denen 79 Tiere mit Ohrmarkensendern ausgestattet wurden. Im Mittel lag die Beobachtungsdauer der Rotten bei 10,8 Monaten. Es wurden 54 Keiler und 49 Bachen (insgesamt 68 %) mit Informationen über Ort sowie Datum und Zeit der Erlegung bzw. Todfund zurückgemeldet. Nur 16,7 % der zurückgemeldeten Tiere wurden außerhalb ihres Mutterstreifgebietes erlegt. Insgesamt wurden 87 % innerhalb von 4 km Entfernung zum Fangort erlegt, 8 % waren zwischen 4 und 10 km entfernt und lediglich 4 % aller Tiere wanderten weiter als 10 km. Die Entfernung zwischen Fang- und Erlegungsort variierte zwischen 184 m und 41,5 km und war bei den Keilern mit im Mittel 3,8 km gut doppelt so groß wie bei den Bachen mit 1,4 km. Hierbei zeigten Überläufer und ältere Keiler die weitesten Entfernungen.

Auch unter Sauen gibt es Freundschaften.

Bei Rotten mit mehreren besenderten Tieren konnten in 12,3 % aller Beobachtungen temporäre Trennungen beobachtet werden. Überläuferrotten trennten sich weniger als Familienrotten (13,9 %), die zu einer größeren Stabilität im Sommer tendierten mit einer ansteigenden Teilungshäufigkeit bis zum Frühjahr. Einige Tiere innerhalb einer Rotte waren enger miteinander assoziiert als mit anderen, wobei Trennungen in allen möglichen Konstellationen auftraten. Die Assoziationen innerhalb der Rotten scheinen familiäre Verwandtschaftsgrade sowie „Freundschaften“ widerzuspiegeln. Temporäre und finale Trennungen scheinen regelmäßige Verhaltensmuster zur Vermeidung intrafamilärer Konkurrenz zu sein.

„Zeitbudget“ Schwarzwild. Durchschnittliche Anzahlen unterschiedlicher Verhaltensweisen pro Stunde am Beispiel von untersuchten Bachen. Quelle: Oliver Keuling, Norman Stier: Schwarzwild, S. 35

Im Hinblick auf die durchschnittliche Verhaltensweise nahm die Nahrungssuche und -aufnahme mit über 90 % bei allen Altersklassen an allen Kirrungen den größten Zeitanteil in Anspruch. Das Sicherungs- und Aggressionsverhalten wurde an allen Kamerastandorten beobachtet. Das Sichern veränderte sich je nach Standort und Jahreszeit bzw. Rottenstruktur in seiner Häufigkeit. Führende Bachen mit Frischlingen sicherten am häufigsten. Waren zeitgleich Überläufer anwesend, so verschob sich der Anteil des Sicherns der Bachen zugunsten der Aggression gegen die Überläufer. Das Aggressionsverhalten spielt eine entscheidende Rolle in der Rottenhierarchie. An der Suhle zählten Komfortverhalten (Körperpflege) und „sonstige Verhaltensweisen“ zur Hauptaktivität der Wildschweine. Es war nur ein geringer Einfluss der Bejagung auf Anwesenheit und Verhalten an der bejagten Kirrung im Vergleich zu den unbejagten Kirrungen zu beobachten.

Saisonale Einflüsse bestimmen die Streifgebietsveränderungen.

Streifgebietsveränderungen müssen vor allem saisonalen Einflüssen zugeschrieben werden, wie Witterung, Nahrungsangebot, veränderte Bedürfnisse etc. Schwarzwild-Rotten reagieren in Raum- und Habitatnutzung, Aktivitäten und Sozialverhalten flexibel und individuell auf viele Einflussfaktoren. Junge Bachen verlagerten ihr Jahresstreifgebiet stärker (Mittel 1.030 m), als ältere Bachen dies taten (240 m). Die Sommerstreifgebiete wurden deutlich weiter (2.100 m) verlagert als in den übrigen Jahreszeiten (840 m), was mit einer Verlagerung der Streifgebietszentren in die Felder zusammenhängt. Es konnte keine generelle Präferenz für eine bestimmte Getreideart festgestellt werden. Im Winter und Frühjahr bewegte sich das weibliche Schwarzwild besonders kleinräumig und standorttreu. Im Winter waren die Sauen im Mittel 9:45 Stunden während einer Nacht aktiv.

Kleinräumige saisonale Streifgebiete und hohe Standorttreue während Herbst, Winter und Frühjahr an drei aufeinanderfolgenden Jahren am Beispiel einer untersuchten Rotte. Lediglich im Sommer werden die Streifgebiete in die Felder ausgedehnt. Quelle: Oliver Keuling, Norman Stier, Schwarzwild: S. 39

Das Schwarzwild zeigt im Sommer eine deutlich höhere Tagaktivität und ist die ganze Nacht beinahe zu 100 % aktiv. Im Winter ist die Aktivitätsphase zwar bedeutend länger, jedoch wird die ganze Nachtlänge mit nur etwa 80 % Aktivität genutzt. Die Tagaktivität liegt deutlich niedriger als im Sommer. Die langen Nächte im Winter ermöglichen es den Sauen, die ganze Nacht aktiv zu sein, ohne den Tag nutzen zu müssen. Schwarzwild war häufiger tagaktiv wenn die Distanz zu Straßen, Wegen und Gebäuden mehr als 150 m betrug. In Revieren mit Einzeljagd war die Tagaktivität deutlich höher. Die Bejagungsmethode hat keinen erkennbaren Einfluss auf die saisonalen Streifgebietsgrößen. Der Einfluss der Bejagung scheint generell eher gering zu sein und wird von anderen saisonalen Faktoren überlagert. Schwarzwild kehrt schon nach kurzer Zeit an bejagte Kirrungen zurück. Die Streifgebiete der bejagten Rotten waren vor und nach den Drückjagden ähnlich, ebenso die der unbejagten Kontrollstichprobe. Durch Drückjagden besteht keine gesteigerte Übertragungswahrscheinlichkeit von Wildseuchen. Als einziges Mittel zur Minimierung von Epidemien beim Schwarzwild bleibt die Reduktion der teilweise sehr hohen Bestände. Revierübergreifend angewendete kombinierte Bejagungsmethoden scheinen notwendig, um die Schwarzwildbestände konsequent zu regulieren. Bei sehr lernfähigen Arten wie dem Schwarzwild ist eine permanente Überprüfung und Anpassung der Bejagungsstrategien nötig. Ein starres System kann langfristig nicht bestandsregulierend wirken.

Ansprechpartner:
Oliver Neuling, Dipl.-Biologe
email: oliver.keuling@googlemail.com

Norman Stier, Dipl.-Forstingenieur
email: stier@forst.tu-dresden.de

Quellen:
TU Dresden (Professur für Forstzoologie, Institut für Forstbotanik und Forstzoologie)

Link zur Studie:
www.researchgate.net

Beitragsfoto: Paul_Henri auf pixabay

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